Höflichkeit – gut oder schlecht?

hoeflichkeit

„Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist“

Goethe schrieb diesen kleinen nebensächlichen Satz in seinem „Faustus“ und schneidet somit ein spannendes Thema an: Höflichkeit = Lügen! Jedenfalls damals und jedenfalls für die Deutschen. Aber wie sieht es aus mit der Höflichkeit, warum sind wir höflich? Verstellen wir uns dadurch? Ist sie scheinheilig oder eher heilig, weil sie uns vor der Wahrheit schützt?

Dazu befragen wir am besten jemanden, der es sehr genau mit der Ehrlichkeit und ziemlich streng mit der Höflichkeit nimmt. Der Kulturkritiker Jean-Jacques Rousseau wurde von mir ja schon beim Thema „Liebe“ als Verfechter des wahren Wortes vorgestellt. Doch hier läuft er zur höchst Form auf!

Jean-Jacques Rousseau war ein Pädagoge, Philosoph, Schriftsteller und Naturwissenschaftler der Aufklärung. Allerdings trafen die Attribute der Aufklärungszeit (Fortschritt, Maschinen und so…), nicht konsequent auf ihn zu. Im Gegenteil, Rousseau verurteilte das, was die Aufklärung den Menschen brachte.

Zurück zur Natur?

Seine Devise war: „Zurück zur Natur“! Naturschönheit und Heimatverbundenheit, sind Indizien der Romantik, somit gibt es Belege dafür, dass Rousseau nicht nur ein Aufklärer, sondern seiner Zeit voraus auch ein Romantiker war. Ganz eindeutig ist aber, dass Natur und Kultur die Gegensätze sind denen sich Rousseau stellt. Er verurteilt die Wissenschaften und Künste als das kulturelle Böse und stellt ihnen die Natur gegenüber indem er schreibt:

„Lasst euch endlich gesagt sein, ihr Völker, daß euch die Natur vor der Wissenschaft bewahren wollte, wie eine Mutter eine gefährliche Waffe aus den Händen ihres Kindes reißt.“1

(Literaturverzeichnis am Ende des Blogbeitrags)

Die Menschen sind versucht die Geheimnisse der Natur zu ergründen, täten aber, Laut Rousseau, besser daran, das zu unterlassen. Warum? Weil sie die Konsequenzen nicht kennen und die Natur sie davor bewahrt, indem sie geheimnisvoll bleibt. Aber die Wissbegierde der Menschen lässt sie „entarten“ findet Rousseau und auf einmal haben wir die Gelehrten. Ein hartes Urteil von Rousseau, der selbst ziemlich intellektuell daher kam.

Der perfekte Mensch

Rousseau war besonders den Persern, Germanen und Spartanern zugetan. Diese Völker stachen vor allem militärisch heraus und strahlten für Rousseau eine besondere Vaterlandsliebe bzw. Volksverbundenheit aus. Er selbst hatte sich mit dem Gedanken angefreundet zum Militär zu gehen, doch aufgrund seiner Kurzsichtigkeit wurde aus diesem Traum nichts.

Der tugendhafte Mann kämpft nackt, denn Kleidung behindert ihn oder verdeckt eine Missbildung, so beschreibt Rousseau den Naturburschen par excellence. Wir sprechen also von Gerald Butler als Spartaner König. Gut, das wäre geklärt.

Rousseau und nichts als die Wahrheit!

Die Unbefangenheit der Nacktheit wie wir sie heute nur noch vom FKK Strand kennen, verschwindet im 16./17. Jahrhundert. Viele Andere Sitten finden ihren Einzug in diese Epochen und finden vor allem in den oberen Schichten ihren Anfang.2
Aus neuen Sitten, die auch eine Art der Abgrenzung zu anderen darstellen, entsteht das was Rousseau „Höflichkeit“ nennt. Dass für Rousseau bedauernswerte an dieser Entwicklung ist vor allem die mangelnde Ehrlichkeit, denn für ihn ist nicht mehr ersichtlich, ob ein Mensch ehrlich, freundlich und authentisch ist.

„Wie angenehm lebte es sich unter uns, wenn die äußere Haltung stets das Abbild der Herzensneigung wäre. […] Alle Geister scheinen aus derselben Form gegossen zu sein. Unaufhörlich zwingt die Höflichkeit, gebietet die Wohlerzogenheit, unaufhörlich folgt man dem Brauch, nie seiner eigenen Eingebung. Man wagt nicht mehr als der zu erscheinen, der man ist […] Man wird nie wissen mit wem man es zu tun hat“3

Paradoxon Rousseau

Durch seine Texte hindurch merkt man Rousseau zwar an, wie sehr er diese Ansicht vertritt, allerdings findet man hier und da Widersprüche. Paradox ist z.B. das Rousseau selbst Denker bzw. Intellektueller war. Wie schon erwähnt verurteilt er Dieselbiegen. Auch war er Künstler und Pädagoge, seine eigenen Kinder gab er aber in ein Heim. Er schrieb auch über Chemie und Botanik, fand sich also auch in Wissenschaften wieder. Dazu kommt, dass er trotz seiner Abneigung gegen die Stadt (denn diese steht für Wissenschaft und Kunst) fast zwanzig Jahre dort lebte und den Leuten, die er so verachtete, seinen Ruhm verdankte.

Wie geht es am Ende mit ihm aus? Rousseau leidet schließlich unter einer Art Paranoia. Er schafft es nicht seine inneren Konflikte zu bewältigen, vor allem im ständigen Bemühen darum mit seinen Gedanken eins zu sein.

Da Rousseau versuchte, ohne ein Repertoire an Masken durch eine Welt voller Masken zu gehen, sorgte für eine psychische Erkrankung, in Form der Projektion. Den Anspruch an sich zu haben immer gut, ehrlich und aufrichtig zu sein, ist eine Last, die kaum ein Mensch tragen kann. Schon allein an den vorher genannten Paradoxien in Rousseaus Biographie ist zu erkennen, dass er eben nicht alles das tat, von dem er überzeugt war, so handeln zu müssen. Manchmal sind es die Erwartungen von außen eben besonders toll, schön, klug und vermögend sein zu müssen. Es können aber auch, wie sich zeigt, die eigenen Erwartungen sein, die uns unter Druck setzen.

Extreme Höflichkeit

Tue ich allerdings nur das, von dem ich denke es verschafft mir Ansehen, Aufmerksamkeit und schwimme ohne nachzudenken mit dem Strom, dann streife ich eine Maske über mein Gesicht, die ich irgendwann nicht mehr ablegen kann. Dann verdecke ich somit mein eigenes wahres Gesicht. Genauer bedeutet das laut Rousseau, dass das was ich sage, auch das aussagen muss, was ich in meinem Innersten wirklich meine und denke, was sich dann auch auf meine Handlungen überträgt.

Heute wie damals finden wir Menschen, die erpicht darauf sind anderen zu gefallen und konform gehen mit allem, ohne einen Moment darüber nachzudenken was sie selber wollen. Diesem Verhalten kann eine psychische Erkrankung voraus gehen, bzw. traumatische Erlebnisse in der Kindheit. Da diese Personen ihre Individualität verlieren bzw. sich eine Identität nehmen, die ihnen gar nicht „gehört“. Natürlich sind nicht alle Menschen die „Ja und Ahmen“ zu allem sagen traumatisiert. Manche Menschen sind auch nur Arschkriecher oder haben keinen Lust auf Stress, wenn sie widersprechen, wieder andere haben einfach einen anstrengenden Chef.

Fakt ist:

Das soziale Umfeld ist wichtig, wir können uns nicht entziehen und sind oft gezwungen bestimmte Rollen zu erfüllen. Diese Rollen sorgen auf der anderen Seite für eine Ordnung. Es ist ein Wechselspiel zwischen Freiheit und Sicherheit, aber es gibt immer „einen Bereich, in dem der Einzelne frei ist, seine Rollen selbst auszugestalten und sich so oder anders zu verhalten.“4 Und dies ist eine Freiheit, die sich jeder bewahren sollte. Das hatte auch schon Arthur Schopenhauer erkannt. Für ihn ist es unerlässlich, dass man für das eigene Handeln niemand anderen zum Vorbild nimmt, „weil Lage, Umstände, Verhältnisse nie die gleichen sind und weil die Verschiedenheit des Charakters auch der Handlung einen anderen Anstrich gibt“5. Er betont, genauso wie Rousseau, dass das Handeln des Menschen auch zu seinem wahren Charakter passen muss. Allerdings stimmen sie nur in diesem Punkt überein.

Mensch ist man erst recht auf dem Maskenballe“

Schrieb einst Heinrich Heine und weckt damit den Verdacht, dass Masken zu uns Menschen dazugehören. Somit kann man annehmen, dass laut Heine die Maskerade in der Natur des Menschen liegt. Auch wenn Heine, wie Roussau kein Freund der Aristokraten war, sind Masken bzw. Rollen wichtig für die Distanzhaltung, die einfach einen Selbstschutz darstellt.

Zuerst einmal sind Rollen und Masken Konstrukte, die wir brauchen um uns die Welt, also vor allem die Gesellschaft zu erklären. Die Bedeutung dieser Begriffe findet ihren Ursprung, ganz klar, im Theater. Eine Rolle zu spielen, bedeutet nach einer Rollenbeschreibung, einem Skript zu spielen. Das ist auf Rollen im sozialen, gesellschaftlichen Bereich zu übertragen. Wir nehmen verschiedene soziale Positionen ein, zu denen verschiedene soziale Rollen gehören. Zum Beispiel als Mutter, Tochter, Vater, Geschäftsmann, Trainer, Politiker, Frau, Student, etc. Das wichtige an einer sozialen Rolle ist, dass die Gesellschaft die Rollenbeschreibung definiert, ganz gleich wie sie von der ein oder anderen Person tatsächlich ausgeübt wird. Warum ist es aber so wichtig soziale Rollen einzunehmen und zu spielen? Weil sie uns zeigen, wie die Welt funktioniert in die wir hineingeboren wurden. Außerdem bieten Rollen Sicherheit. Diese Sicherheit besteht nicht nur darin seine innersten Gedanken und Gefühle zu schützen, sondern sie entlasten den Mensch: Stell dir vor immer genau das zu sagen, was du denkst und permanent ehrlich zu sein.

Soziale Rollen und die dazugehörigen Institutionen wie z.B. Familie, Schule, Universität, usw. erleichtern uns die vielen Entscheidungen, die wir im Alltag treffen müssen, sie geben uns Struktur. Daher ist es erleichternd für das Leben sich an bestimmte Regeln und z.B. Höflichkeitsgebaren zu halten. Gut zu beobachten, wie wichtig es sein kann sich angemessen zu verhalten, sieht man bei Auslandsbesuchen. Da nicht jede Kultur und nicht jedes Land die gleichen Gepflogenheiten hat wie andere. Setzt man sich damit nicht auseinander, kann es zu peinlichen Situationen kommen. Das muss nicht zwangsläufig nur im Ausland passieren, sondern wird auch im eigenen Land getadelt.

John Locke formulierte dies sehr passend in dem er schreibt:

„Was die Strafen betrifft, die ihnen nach den Staatsgesetzen bevorstehen, so schmeicheln sie sich oft mit der Hoffnung, daß sie straflos bleiben werden. Niemand aber entgeht der Strafe ihres Tadels und Mißfallens, der gegen die Mode und die Ansicht derjenigen Gemeinschaft verstößt, der er angehört und sich empfehlen möchte. Unter zehntausend ist nicht einer so unbeugsam und so unempfindlich, als daß er die fortgesetzte Mißbilligung und Geringschätzung von seiten seiner eigenen Gesellschaft ertragen könnte.“6

So nun hoffe ich, habe ich dich ein bisschen zum Nachdenken angeregt! Diesmal gab es auch ein paar mehr Fußnoten, damit du selbst schauen kannst, wo was steht, wenn dich das Thema interessiert. Schau auch gerne bei meinen Kursen vorbei oder hinterlasse einen Kommentar ;)!

  • 1Rousseau, Jean-Jacques: Schriften zur Kulturkritik. (Hrsg.) Kurt Weigand. 4. erw. Aufl. Hamburg 1983: Meiner, S. 29
  • 2Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt a M. 1976: Suhrkamp. (sehr zu empfehlen!!)
  • 3 Rousseau: siehe Fußnote 1, S. 11ff.
  • 4Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 16. Aufl. Wiesbaden 2006: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 47
  • 5 Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena 1. (Hrsg.) von Löhneysen, Wolfgang Frhr.: Arthur Schopenhauer. Sämtliche Schriften. Band 4. Frankfurt a. M. 1986: Suhrkamp, S. 553
  • 6Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand. Band I: Buch I und II. Hamburg 2006: Meiner, S. 447f.

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